Leopold Lindtberg und Jean-Luc Godard
Die Geburtsstunde des nationalen Kinos schlug in den 1940er Jahren mit einem ersten humanistischen Spielfilm, La Dernière Chance von Leopold Lindtberg (1945, Großer Preis bei den Filmfestspielen von Cannes). Der aus Wien stammende Emigrant ist der erste große helvetische Regisseur. Er erhielt den Oscar für das beste Drehbuch für Marie-Louise und 1948 den Oscar für die beste Originalgeschichte mit The Search. 1955 hatte er die Ehre, Mitglied der Jury in Cannes zu sein.
Jean-Luc Godard wurde als Sohn Schweizer Eltern in Paris geboren, wuchs aber in Nyon im Kanton Waadt auf. Er drehte seine ersten Kurzfilme in der Schweiz, bevor er wieder nach Frankreich ging, wo er zu einem führenden Vertreter der Nouvelle Vague wurde. Mit À bout de souffle machte er 1959 auf sich aufmerksam, und der Beginn des folgenden Jahrzehnts markierte seinen Durchbruch: Bande à part, Pierrot le fou, Le Mépris. .. Nachdem er Mitte der 1960er Jahre Anne Wiazemski kennengelernt hatte, verkehrte er im Umfeld der militanten Studentenbewegung. La Chinoise (1967) ist das Ergebnis davon. Im selben Jahr drehte er Camera Eye, einen Kurzfilm, der Teil von Chris Markers Projekt Loin du Vietnam war. Godard wandte sich immer radikaler nach links, bis er 1968 beschloss, das Kino, so wie er es praktizierte, aufzugeben. Er verpflichtete sich, wie Chris Marker, Flugblätter zu erstellen und den Lehrfilm Le Gai Savoir zu drehen, der bei seiner Veröffentlichung zensiert wurde. Im selben Jahr setzte er sich bei den großen Figuren der französischen Nouvelle Vague für die Absage der Filmfestspiele in Cannes zur Unterstützung der Studenten ein und gründete mit Jean-Pierre Gorin die Gruppe Dziga Vertov. Godard setzte sein politisches Engagement mit Un film comme les autres fort, der in einer Fabrik gedreht wurde und Diskussionen zwischen Arbeitern und Studenten inszenierte. Nach einem schweren Motorradunfall im Jahr 1971 freundet er sich mit einer großen Persönlichkeit des Schweizer Films, Anne-Marie Miéville, an. Sie wird über mehrere Jahrzehnte hinweg seine enge Mitarbeiterin und führt mit ihm Co-Regie für die große und die kleine Leinwand(Ici et ailleurs ; Deux fois cinquante ans de cinéma français ; The Old Place). Godard bleibt auch in der Folgezeit produktiv und reiht Spiel- und Kurzfilme aneinander, manchmal in experimentellen Formen. Er starb am 13. September 2022 in Rolle durch assistierten Suizid, der in der Schweiz unter bestimmten Bedingungen gesetzlich erlaubt ist.
Schweizer Regisseure auf internationaler Ebene
Auf internationaler Ebene hat der Schweizer Film mit Alain Tanner, Claude Goretta und Michel Soutter ein gutes Schaufenster. Gemeinsam mit Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange gründeten sie 1968 die Groupe des cinq, um den jungen Schweizer Film zu fördern. Barbet Schroeder, der für Das Von-Bülow-Mysterium für den Oscar als bester Regisseur nominiert war, fühlt sich sowohl im Spiel- als auch im Dokumentarfilm zu Hause. Im Jahr 2023 drehte er Ricardo und das Gemälde Porträt des Malers Ricardo Cavallo.
Seit einigen Jahren bringt der Schweizer Film eine neue Generation hervor. Hervorzuheben sind Jean-Stéphane Bron, einer der vielversprechendsten Filmemacher der Gegenwart, der für seine politischen Dokumentarfilme wie Cleveland gegen Wall Street (2010) bekannt ist, und schließlich Stefan Haupt, ein Zürcher, der mit seinem Film Le Cercle bekannt wurde, der 2014 bei der Berlinale als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2016 gewann der französisch-schweizerische Animationsfilm Ma vie de courgette unter der Regie von Claude Barra zwei Césars.
Große Interpreten
Ursula Andress ist vielleicht die größte helvetische Schauspielerin. Im Laufe ihrer Karriere spielte sie in zahlreichen italienischen und französischen Filmen mit. Besonders hervorzuheben ist Soleil rouge (1971), in dem sie an der Seite von Alain Delon, Charles Bronson und Toshiro Mifune spielte. 1963 wurde sie für ihre Rolle in 007 gegen Dr. No mit dem Golden Globe ausgezeichnet und erlangte damit endlich internationalen Ruhm. Sie war auch das einzige James-Bond-Girl, das in einem von Flemings Romanen(Im Auftrag Ihrer Majestät) persönlich auftrat.
Bruno Ganz ist ein bekannter Schweizer Schauspieler. Besonders bekannt ist seine meisterhafte Darstellung eines Hitlers auf dem absteigenden Ast in Der Unter gang (2004), aber auch seine Rolle als Damiel in Wim Wenders' Die Flügel der Begierde (1987) und dessen Fortsetzung Si loin, si proche (1993). Er spielte für die ganz Großen, wie mit Ridley Scott in Cartel (2008), und in einer seiner letzten Rollen vor seinem Tod verkörperte er Lars von Triers Verge in The House that Jack Built (2018).
Festivals und internationale Öffnung
Die am meisten erwartete Filmveranstaltung des Landes ist natürlich das Internationale Filmfestival von Locarno. Es wurde 1946 gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue Trends, Strömungen und Filmemacher vorzustellen, indem es das Autorenkino und die künstlerische Qualität fördert. Die Piazza Grande ist der symbolträchtige Ort des Festivals. Einige Filme werden dort unter freiem Himmel auf einer sehr großen Leinwand gezeigt. Die wichtigste Auszeichnung, die von der Jury vergeben wird, ist der Goldene Leopard.
Das Festival Visions du réel in Nyon hingegen widmet sich Dokumentarfilmen und ist das zweitgrößte Festival der Schweiz. Das Festival wurde 1969 gegründet und war schon immer offen für Dokumentarfilme aus allen Teilen der Welt. Ebenfalls aus dem Jahr 1969 stammt der hauptsächlich in der Schweiz gedrehte FilmOn Her Majesty's Secret Service ( Im Geheimdienst Ihrer Majestät ), der für Fans des berühmten Agenten James Bond eine der Referenzen bleibt. Die in der außergewöhnlichen Umgebung von Grindelwald gedrehten Sequenzen und die beeindruckende Skiabfahrt im Lauterbrunnen haben viel dazu beigetragen. Der symbolträchtigste Ort der Dreharbeiten ist jedoch der Piz Gloria, das futuristische Drehrestaurant auf dem Schilthorn in 2970 m Höhe.
Die Schweiz ist nicht nur Gastgeberin für zahlreiche Produktionen, sondern diente auch als Kulisse für einige der größten Filme des vergangenen Jahrzehnts, von Olivier Assayas' Sils Maria über Martin Scorseses The Wolf of Wall Street bis hin zu Kenneth Brannaghs The Orient Express Crime und Paolo Sorrentinos Youth (der in der Schweiz bereits Die Folgen der Liebe in der Stadt Lugano gedreht hatte).
Head und Ecal als Brutstätten aufstrebender Filmemacher
Die Schweiz kann sich auch rühmen, zwei der besten Filmhochschulen Europas zu haben: die HEAD in Genf mit Schwerpunkt Dokumentarfilm sowie die Ecal in Lausanne auf der anderen Seite des Genfer Sees. Unter den aufstrebenden Figuren dieser Ausbildungen sind zwei Absolventen der letzten Jahre hervorzuheben: Lou Rambert Preiss aus dem Jahrgang 2018 der Filmabteilung der Ecal, die unter anderem den Kurzfilm Ici le chemin des ânes drehte, der auf seiner Festivaltour (Locarno, Côté court) Beachtung fand, oder June Balthazard, die 2015 den Masterstudiengang Film an der HEAD abschloss und nach ihrem Wechsel zu Le Fresnoy unter anderem bei der Taipei Biennale ausgestellt wurde.