Höhlenkunst
Äthiopien liegt in einem der ältesten Siedlungsgebiete der Geschichte. Aus diesem Grund zieht die nationale Felskunst Spezialisten an. Die ersten Entdeckungen, die Henri Breuil in den 1930er Jahren untersuchte, führten zur Definition eines arabisch-äthiopischen Stils, ausgehend von der Genda-Biftou-Höhle.
In der Riftregion entspricht die Kunst drei Merkmalen: Malerei ist präsenter als Gravur, Monochromie und Geometrie der Motive. Kreise, Mäander und Spiralen sind von den Völkern hinterlassene Besitzzeichen.
Ankunft der Religion
Ab dem 4. Jahrhundert dringt der christliche Glaube über das Rote Meer in das Land ein. Ab dem 7. Jahrhundert geriet Äthiopien jedoch unter den Druck der muslimischen Nachbarländer. Jeglicher Kontakt mit dem Westen wurde unterbrochen. Aufgrund dieser Isolation entwickelte Äthiopien seinen eigenen Stil, der auf archaischen Elementen aus der byzantinischen Kultur basierte. Die einheimische Religion hielt sich mehrere Jahrhunderte lang an ihre eigenen Riten. Die äthiopische Kunst ist daher nur wenig von westlichen Einflüssen betroffen.
Das beste Beispiel dafür findet sich in den Bergen im Herzen des Landes. Die elf in den Fels gehauenen Kirchen von Lalibela haben dem Ort den Namen "Neues Jerusalem" eingebracht. Die hohe Pilgerstätte, die auf das 12. Jahrhundert datiert wird, soll von König Lalibela errichtet worden sein. Das Innere der Kirchen, die ausgegraben statt gebaut wurden, ist mit Wandmalereien geschmückt. Aus ästhetischer Sicht sind die biblischen Szenen ein Erbe der byzantinischen Malerei. Der orthodoxe Einfluss macht sich in dem Mangel an Realismus bemerkbar. Die feierlichen Figuren, die von vorne gesehen werden, sind schematisiert und emotionslos. Es sind keine architektonischen oder natürlichen Elemente sichtbar, an denen sich der Betrachter orientieren könnte.
Einflüsse und Realismus
Die Malerei zeigt bis zum Ende des 14. Jahrhunderts schematisierte Motive. Nach und nach tauchen Dreiviertelfiguren auf, ebenso wie Bäume oder Architektur- und Dekorationselemente. Der Strich wird feiner und die Darstellung detaillierter. So zeigen sich die europäischen Einflüsse im Laufe des 15. Jahrhunderts. Diese stilistische Entwicklung ist an den Wänden und in den Manuskripten zu erkennen.
Das 17. Jahrhundert ist von heftigen Konflikten geprägt, die zu massiven Zerstörungen von religiösen Gebäuden führen. Die Kirchen werden mit einem kreisförmigen Grundriss wieder aufgebaut, der den Malern mehr Raum bietet. Unter Kaiser Fasiladas (1603-1667) werden grandiose Fresken gemalt.
Parallel dazu entwickelt sich die Morphologie der Figuren: Bärte, Nasen und Gesichtsform werden länger. Die Posen werden vielfältiger und führen zu komplexeren Kompositionen. Die Farbpalette wird immer reicher. Ab 1730 wird das von der europäischen Kunst übernommene Streben nach Realismus bis zum Äußersten getrieben und beeinträchtigt die Raffinesse der Darstellung. Die grellen Farben, die nun eingeführt wurden, deuten auf einen Einfluss aus Indien hin.
Talismanische Kunst
Die Talismankunst, die als Unterstützung für Gebet und Heilung verwendet wird, ist eine alte äthiopische Tradition. Ihr Ursprung geht auf die Entstehung des Christentums zurück. Nirgendwo sonst blühte sie jedoch so stark wie in Äthiopien. Labyrinthische Muster sind das Hauptmotiv dieser Strömung.
Gedewon Makonen (1939-1995) und Gera sind die wichtigsten Vertreter dieser extrem grafischen Kunst. Gedewon wird für die Poesie seiner Gesten gelobt. Seiner Meinung nach fungieren die Talismane sowohl als Figur als auch als Schrift. Die Wiederholung vorgefertigter, uralter Muster trägt zur Heilung der Seele bei. Die Muster werden mit Bleistift, Kugelschreiber oder Tinte nachgezeichnet, während der Patient dem Talisman seine Erfahrungen hinzufügt. Während seiner kreativen Therapiesitzungen ist der Künstler auch Behandler und Träger der Bilder des Patienten.
Die Arbeit von Gedewon und Gera ist international bekannt, ob sie nun derOutsider Art oder der medialen Kunst zugerechnet wird.
Skulptur Waka
Diese aus Holz geschnitzten Grabfiguren werden als Waka, Waga oder Waaka bezeichnet. Sie sind stilisiert und werden vom Volk der Konso aus dem Süden Äthiopiens geschnitzt. Sie stellen einen Verstorbenen dar, der sich bei der Verteidigung des Clans hervorgetan hat. Zähne und Augen aus natürlichen Materialien (Eierschalen, Knochen) werden hinzugefügt, ebenso wie Schmuck und ein Überzug, der sie vor Sonne und Regen schützt. Die stehende Figur soll an die Taten des Verstorbenen erinnern, die in die Geschichte einer Bevölkerung eingebettet sind. Alle Waka werden auf der Spitze eines Grabhügels aufgestellt.
Unter den verschiedenen Arten von Waka zeichnet sich der Held durch ein phallisches Ornament, Waffen und Elfenbeinschmuck aus. Der mit einem Zepter versehene Waka ist ein Poqalla, ein Symbol der Autorität. Der weibliche Waka ist an seiner traditionellen Frisur, seiner Kleidung und seinem Schmuck zu erkennen.
Waka sind im Äthiopischen Nationalmuseum in Addis Abeba und im Konso-Museum zu sehen.
Moderne Kunst
Die jahrzehntelangen soziopolitischen Unruhen und Hungersnöte, die Äthiopien heimsuchten, haben das kulturelle Leben auf Eis gelegt. Dennoch hat sich an einer der ältesten Kunstschulen Afrikas, der 1958 gegründeten Ale School of Fine Art and Design in Addis Abeba, eine moderne Strömung gebildet. Jeder äthiopische Künstler, der auch nur ein bisschen modern war, war Schüler oder Lehrer an dieser Schule.
Ein Beispiel ist der Maler und Dichter Gebre Kristos Desta, der 1932 in Harar geboren wurde und 1981 verstarb. Er galt als Wegbereiter der modernen Kunst in Äthiopien und studierte Kunst in Deutschland. Nach seiner Rückkehr führte er die "Nicht-Figuration in Äthiopien" ein. Im Jahr 2018 würdigt das Museum of Modern Art/Goethe Institut Ethiopia sein Werk.
Die Wegbereiter Afewerk Tekle (1932-2012) und Skunder Boghossian (1937-2003) studieren in London bzw. Paris. Sie vermittelten ihrerseits ihre Version einer innovativen Kunst in Afrika. Boghossian verbrachte jedoch einen Großteil seiner Karriere in den USA. Seine Kunst ist geprägt von einem kulturellen Schmelztiegel. Religiöse Symbole, Jazz, magische Kunst: Boghossian war der erste äthiopische Künstler, der 1963 und 1965 in die Sammlungen des Musée d'Art Moderne in Paris und des MoMA in New York aufgenommen wurde.
Afewerk Tekle bietet seine Vision der christlichen Kunst, insbesondere durch die Glasmalerei. Er schuf zahlreiche Fresken und Mosaike in Äthiopien, wie in der St.-Georgs-Kathedrale in Addis Abeba oder im Hero Center in Debre Zeit.
Internationale Expansion
In den letzten Jahren hat sich die äthiopische Kunst auf dem internationalen Kunstmarkt hervorgetan. Einige Künstler haben sich für eine Karriere im Ausland entschieden, wie Wosene Kosrof, der 1950 geboren wurde und in die USA ausgewandert ist. Seine Arbeiten sind im Smithsonian und im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York zu sehen. In seinen Gemälden verwendet Kosrof die alte Sprache Amharisch, deren Zeichen er verzerrt.
Die Bildhauerin Etiyé Dimma Poulsen wurde 1968 in der Provinz Aroussis geboren und folgte im Alter von 14 Jahren ihren Adoptiveltern nach Dänemark. Obwohl sie mittlerweile in Belgien lebt, erforscht Poulsen die Arbeit mit Ton und lässt sich von traditionellen afrikanischen Statuen inspirieren, um die filigranen Keramiken herzustellen, die ihr Markenzeichen sind. Sie schöpft gerne aus ihren Erinnerungen, um klare, ausdrucksstarke Silhouetten zu formen.
Aufschwung der zeitgenössischen Kunst
In Äthiopien ging die Ernennung von Premierminister Abiy Ahmed im Jahr 2018 mit kulturfreundlichen Reformen einher.
In Addis Abeba empfangen viele Künstler das Publikum in ihren Atelier-Galerien. Das ist der beste Weg, um den Puls des aktuellen Kunstschaffens zu fühlen. Es ist nicht ungewöhnlich, auf ein Haus zu stoßen, das als Kunstgalerie ausgeschildert ist. Zögern Sie nicht, an die Tür zu klopfen, auch wenn es sich nicht um eine offizielle Ausstellung handelt. Das Studio des renommierten Dawit Abebe (geb. 1978) spiegelt seinen Erfolg wider. Der von Museen auf der ganzen Welt gefragte Künstler malt rätselhafte Figuren, die dekonstruiert und wieder aufgebaut werden, um seine Kritik an der Gesellschaft auszudrücken.
Auch traditionellere Kunstgalerien haben ihre Türen geöffnet, wie die Lafto Art Gallery und die Asni Gallery. Das Netsa Arts Village wurde 2008 auf Initiative ehemaliger Studenten der Addis Abeba University School of Applied Arts and Design gegründet. Der Ort hat sich schnell als Plattform für zeitgenössische Kunst etabliert. Er wird vom Goethe-Institut und der Stadt unterstützt, die einen Teil des Ferensay-Parks als Ort für den kulturellen Austausch zur Verfügung stellt.
Die urbane Kunst ist innerhalb der Hauptstadt auf der Suche nach sich selbst. Um die Bevölkerung für ihre Qualitäten zu sensibilisieren, vereint der Verein Asa-Addis Street Art seit 2018 Graffiti-Künstler und Freskenmaler. Sie reagieren auf Aufträge, die meist kommerziellen Zwecken dienen. Die Kosten für ihre Arbeiten werden pro Quadratmeter berechnet. Einige unentgeltliche Projekte wurden vom Goethe-Institut und der Alliance éthio-française durchgeführt.
Aktuelle Szene
Als Erben einer langen Tradition der Malerei erforschen zeitgenössische Künstler alle Medien. Die Entstehung von Ausstellungsräumen fördert das kreative Schaffen. Die Künstler sind weniger geneigt, ins Ausland zu gehen, was sie jedoch nicht daran hindert, ihren Ruf in alle Ecken der Welt auszudehnen.
Elias Sime, ein 1968 geborener multidisziplinärer Künstler, lebt und arbeitet in Äthiopien. Er spielt mit der Materialität in seinen monumentalen Reliefs, die aus Elektronikschrott bestehen. Aus visueller Sicht bleiben seine farbenfrohen Patchworks zutiefst äthiopisch. Im Jahr 2002 war er an der Eröffnung des Zoma Contemporary Art Center (ZCAC) in der Hauptstadt beteiligt, das heute in Zoma Museum umbenannt wurde. Er initiierte den Skulpturengarten im Unity Park am Nationalpalast in Addis Abeba.
Wendimagegn Belete besticht durch seine Collagen aus Textilien und Gemälden, die mit Verweisen auf die nationale Geschichte gespickt sind. Der 1983 geborene Ephrem Solomon lässt sich von der Tradition des Holzschnitts inspirieren, um vor der ökologischen Notlage und dem Zustand des Menschen zu warnen. Seine Werke wurden in private und öffentliche Sammlungen in Dubai, Großbritannien, Australien und Südafrika aufgenommen.
Die Fotografin Aida Muluneh hat das erste Fotofestival in Ostafrika, Addis Foto Fest (AFF), ins Leben gerufen. Sie wurde 1974 geboren und verbrachte die zweite Hälfte ihrer Kindheit in Europa und später in Kanada. Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin für die Washington Post und nimmt parallel dazu am DESTA-Programm für Kunsterziehung in Afrika teil. Sie kehrte 2007 nach Äthiopien zurück, nachdem sie bei den Rencontres africaines de la photographie in Bamako (Mali) einen Preis gewonnen hatte. Ihre Sicht auf die äthiopische Kultur lässt sich in der Sammlung Past Forward entdecken. Aida Muluneh bleibt der analogen Fotografie besonders verbunden.
2016 wird die erste Galerie für zeitgenössische Kunst "mit weißen Wänden" in Äthiopien von Rakeb Ile und Mesai Haileleul eröffnet. Die Addis Fine Art (AFA) hat sich mit einem Raum in London im Stadtteil Fitzrovia verdoppelt. Die AFA vertritt äthiopische Künstler auf allen internationalen Kunstmessen. Sie trägt zu ihrer Anerkennung in Miami, New York, Dubai, Lagos und Kapstadt bei. Unter ihren Fittichen erhalten äthiopische bildende Künstler die ihnen gebührende Anerkennung.