Ein Sozialsystem der zwei Geschwindigkeiten
In Sizilien lebt ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und die Kluft zwischen Nord und Süd ist groß (sogar schwindelerregend), aber auch innerhalb der Bevölkerung, zwischen dem Landesinneren und den industrialisierten und touristisch erschlossenen Küsten, oder zwischen den Menschen der "Familie" und denen, die nicht dazu gehören. So spürt man starke Klassengegensätze und eine echte Schwierigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Arbeitslosenquote ist hoch (20 %), die Löhne sind nur halb so hoch wie im übrigen Italien und die Prekarität betrifft vor allem junge Menschen und Frauen. Insofern fühlen sich viele Sizilianer ausgegrenzt und von den herrschenden Klassen im Stich gelassen. Armut ist in Sizilien jedoch nicht so sichtbar wie anderswo: Beispielsweise sieht man fast nie Obdachlose auf den Straßen. Diejenigen, die einige finanzielle Schwierigkeiten haben, werden fast immer bei ihren Familien aufgenommen und arbeiten tatsächlich schwarz. Die immer noch sehr starken Bindungen ihrer Mitglieder untereinander sind keine Legende, und diese Solidarität oder dieses "permanente soziale Gefüge" - die einzige Alternative zu dem von den Behörden hinterlassenen Vakuum - schützt die Bedürftigsten vor den Risiken der Desozialisierung und Anomie.
Bildung als spaltender sozialer Faktor
Die Schule ist natürlich Pflicht und in ganz Italien gilt das gleiche Schulsystem. Es ist in vier Lernperioden unterteilt: scuola materna (3 bis 5 Jahre), scuola elementare (6 bis 10 Jahre), scuola media (bis 13 Jahre), dann 5 Jahre scuola secondaria vor der Universität eventuell, wobei die Schulpflicht mit 16 Jahren endet. In Sizilien werden Sie aber sicherlich viele junge Teenager oder sogar Kinder sehen, die als Händler oder in der Landwirtschaft und Fischerei arbeiten. Sie kommen aus den einfachsten Gesellschaftsschichten und arbeiten ganz selbstverständlich im Familienbetrieb mit und führen dessen Tradition mit viel Leidenschaft und Stolz fort. In denselben Kreisen gibt es (anders als im Norden) ein großes Problem mit dem Analphabetismus, der natürlich bei den Älteren stärker ausgeprägt ist. Für die Jüngeren ist Lesen und Schreiben können ein wesentliches Mittel, um sich in den Rest der Gesellschaft zu integrieren, wenn die Familie nicht mehr die Lösung für die Zukunft sein kann. Schließlich ist die Religion (und insbesondere die unumgängliche Figur des Priesters) in der Erziehung der Sizilianer immer noch sehr präsent. Für viele Familien ist der Katechismus nach wie vor ein Muss, und der Pfarrer ist nach wie vor ein bevorzugter und respektierter Ansprechpartner für die Jugendlichen und ein Garant für eine Bildung, die diesen Namen verdient.
Das Universitätssystem ist in zwei Zyklen unterteilt, die insgesamt fünf Jahre dauern. Nach den ersten drei Jahren wird eine laurea breve (entspricht einer französischen Licence) verliehen, danach muss man noch zwei weitere Jahre absolvieren, um eine laurea specialistica (einen Master) zu erlangen. Der Zugang zu einem Hochschulstudium ist in bestimmten benachteiligten Milieus offensichtlich die einzige Möglichkeit, eine Sicherheit für ihre Kinder zu finden, während ihre traditionelle Arbeit (Handwerker, Fischer, Landwirte...) zunehmend von der Globalisierung erdrückt wird.
Endemische Arbeitslosigkeit
In Sizilien, wie auch im Rest des Landes, sind die vorherrschenden Wirtschaftssektoren nach wie vor Handel, Landwirtschaft, Dienstleistungen und Tourismus. Die Beschäftigung junger Menschen gibt Anlass zu großer Sorge. Die Insel ist stark von Arbeitslosigkeit betroffen, die im Jahr 2022 bei rund 20 % liegt (unter Jugendlichen sogar bei 40 %), und zwar sowohl vor als auch nach der Covid-19-Krise. Sizilien gehört zu den Regionen in Italien mit den niedrigsten Beschäftigungsquoten... Die katastrophalsten Zahlen betreffen die Provinzen Agrigento, Palermo und Caltanissetta. Ein Problem, das junge Menschen dazu bringt, ihre geliebte Insel zu verlassen, um in den großen Städten, hauptsächlich im Norden des Landes, Arbeit zu finden. Das Rentenproblem, das in Frankreich aktuell ist, ist es auch in Italien. Unsere Nachbarn werden noch später in Rente gehen! Während die von der populistischen M5S-Liga-Regierung 2018 beschlossene Senkung des vorübergehenden gesetzlichen Rentenalters auf 62 Jahre erhöht wurde (was 5 Milliarden Euro gekostet hat), wurde es ein Jahr später durch die Fornero-Reform 2019 wieder auf 67 Jahre angehoben! Ein Jojo, das die nationale politische Uneinigkeit in dieser Frage zum Ausdruck bringt.
Ein uneinheitliches Gesundheitssystem
Zwischen dem französischen und dem italienischen System gibt es einige Ähnlichkeiten. So sind alle Italiener wie die Franzosen in der staatlichen Krankenversicherung versichert. Das italienische Gesundheitssystem ist nicht lückenlos, obwohl es mit rund 7 % einen nicht unerheblichen Teil des BIP ausmacht. Der öffentliche Gesundheitsdienst, der 1978 durch die Zusammenlegung verstreuter Einheiten entstanden ist, ist nicht sehr gut. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind wenig effizient. Auf Facharztbesuche muss man zwei bis drei Monate warten. Diese Krise, die vielen Ländern gemein ist (auch Frankreich ist davon nicht ausgenommen), hat tiefere Ursachen, insbesondere die Überalterung der Bevölkerung und ein verändertes Verhalten im Umgang mit Krankheiten. Die Sizilianer verbinden jedoch das Nützliche mit dem Angenehmen und treiben Sport in der Turnhalle, d. h. nella palestra, denn Gesundheit ist eine Sache, das Streben nach einem perfekten Körper eine andere. Zu jeder Tageszeit, auch spät abends, sind die Fitnessstudios voll. Mens sana in corpore sano.
Die Familie dominiert in Sizilien
Die Familie ist in Sizilien, wie auch im Rest des Landes, heilig. Der Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf die Familienstruktur bleibt spürbar. Im Allgemeinen sind die Familienbande vor allem im Süden stärker als in jedem anderen westeuropäischen Land. Die Familie dominiert über alles andere, die Arbeit, das Land. "Sie ist sein einziges Vaterland", schreibt Leonardo Sciascia. Sie ist die letzte Zuflucht und die letzte Hilfe. Auf die Familie kann man sich immer verlassen!
Selbstverständlich bleibt die Figur der Mamma, wie die der Madonna, das unantastbare geheime Herz. Für einen Italiener ist die Mamma tutto, "alles", sein Leben, seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft. Man spricht in Italien von "Mammismus" und meint damit die Nähe der italienischen Mamma, der Mutter der Familie, zu ihren Kindern. Die Italiener können die Nabelschnur nicht durchtrennen. Die Nachkommen bleiben bis ins hohe Alter unter dem Dach der Familie, leicht bis zu 30 Jahren oder sogar noch länger. Je später die Kinder das Elternhaus verlassen, desto glücklicher sind die Eltern. Der Standpunkt der Kinder ist auch heute noch nicht ganz klar, denn der Luxus des Nichtstuns ist nicht zu unterschätzen! Auf dem Land leben häufig drei Generationen zusammen. Die Arbeitslosigkeit festigt eine Situation, die die moderne Welt tendenziell über den Haufen geworfen hatte. Und die Familienehre ist das wertvollste Gut. Der Mann ist die zentrale Figur und das Familienoberhaupt, das über das moralische Verhalten aller, insbesondere der Frauen, entscheidet. Die Jungen haben einen privilegierten Status als Anführer, aber sie sind vor allem dazu da, die Frauen vor möglichen Werbern zu bewachen. Wie dem auch sei, die Dinge sind in Bewegung und die Mädchen emanzipieren sich, die Autorität des Vaters bekommt Risse und die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mädchen und Jungen werden tendenziell weicher. Die Familie verliert immer mehr an Einfluss, vor allem durch die Scheidung.
Platz für die Donna!
Frauen und Italiener - das ist keine Legende! Petrarca besang Laura, Dante lobte Beatrice... und Fellini, Antonioni ihre jeweiligen Musen. Die Sizilianer sind da keine Ausnahme. Jungfrau, Mamma
, Ideal der Schönheit und Reinheit, die Frau wird verehrt und fast gefürchtet. Aber auch wenn die Sizilianer bei ihrem Lieblingsthema (neben dem Fußball) nicht mit Superlativen geizen, haben Feministinnen noch ein wenig Arbeit vor sich. Gemäß dem Sprichwort: Bona donna, donna chi nun parla (Eine gute Frau ist eine Frau, die nicht spricht). Glücklicherweise ändert sich die Situation, Frauen gelangen nun in Situationen, die ihnen früher verwehrt waren, und sind überhaupt nicht mehr auf die traditionellen Rollen beschränkt, die für sie Vergangenheit waren: Haus, Küche und Kinder! Die Frau ist nicht mehr in der reduzierenden Rolle der Mamma gefangen. Seit 1970 ist in Italien die Scheidung erlaubt, die Pille ist allgemein gebräuchlich und Abtreibung ist seit 1978 straffrei. Jungen und Mädchen erhalten heute die gleiche Bildung und haben daher auch die gleichen beruflichen Erwartungen. Frauen finden neue Aufgaben in der Gesellschaft, was sich in der niedrigen Geburtenrate widerspiegelt.In konservativen Familien herrscht nach wie vor Diskretion und bestimmte "Angelegenheiten" bleiben Sache der Männer. Die sizilianischen Ragazzi sind genauso demonstrativ wie jeder Italiener, der etwas auf sich hält, gegenüber der donna, die auf der Straße vorbeigeht. Auch wenn das Verführungsverhältnis und das Spiel mit den Blicken intensiv und sehr kodifiziert sind, sind die Jungs trotz allem respektvoll und ein wenig verlegen in Bezug auf bestimmte Prinzipien. Immerhin werden 9 von 10 Paaren kirchlich getraut. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind nicht die Regel!